Der Weg des Mitgefühls
Nach dem Artikel der letzten Woche wurde ich sehr nachdenklich. Frieden ist ein sehr vielschichtiges Thema, genauso wie Krieg. Es blieb das schale Gefühl in mir zurück nur an der Oberfläche gekratzt zu haben. Längst nicht alles gesagt zu haben. Aber anstatt einen weiteren, ausführlicheren Artikel zum Thema Frieden zu schreiben, möchte ich diese Woche meine Zeilen dem Mitgefühl und dem Weg des Mitgefühls widmen. Denn das ist meiner Meinung nach die dringendste Medizin, die unsere Erde im Moment braucht.
Mehr Mitgefühl in die Welt bringen
Nachdem ich letzte Woche über das Thema Frieden geschrieben hatte und gleichzeitig Nachrichten hörte, bin ich sehr nachdenklich geworden. Und auch traurig und wütend. Alles erschien mir so komplex und verworren und ich hatte im Hinblick auf meinen Artikel ein eher unbe-friedig-tes Gefühl.
Um die Knoten in meinem Kopf zu entwirren, nahm ich eine distanziertere Perspektive ein und wagte mehrere Blicke in die Geschichte. Ich sah Stämme wandern und andere verdrängen, ich sah Reiche wachsen, andere Länder erobern und andere Reiche verschwinden. Ich sah Existenzdruck, Gewalt, Kampf, Aggression, Eroberung, Ausbeutung, Rache, Trauma und Hass.
Wie sollen wir diesen Teufelskreis jemals durchbrechen?
Meiner Meinung nach durch mehr Mitgefühl. Dadurch dass immer mehr Menschen sich in Mitgefühl üben, den Weg des Mitgefühls gehen und andere damit anstecken. Unter meinen Freunden sind praktizierende Buddhisten. Denen erzähle ich heute nichts Erstaunliches.
Was ist Mitgefühl?
Womit assoziierst Du den Begriff „Mitgefühl“? Mit Buddhismus? Oder siehst Du es als einen christlichen Wert? Aber noch viel wichtiger: wie fühlt es sich für Dich an?
Ich möchte Dir Mitgefühl heute nicht als religiöses Konzept nahe bringen. Sondern als einen Teil des natürlichen, menschlichen Repertoires an Gefühlszuständen.
Mitgefühl erlebe ich wie eine Mischung aus Frieden und bedingungsloser Liebe. Es beginnt im Herzen und wird schnell sehr weit. Ein bisschen wie ein Ballon, den man aufpustet. Es basiert auf Empathiefähigkeit, aber es geht für mich weiter als die Empathie. Es öffnet einen Raum, in dem es leicht fällt, den Ist-Zustand zuzulassen und gleichzeitig liebevolle Schwingungen zu senden. Das Üben in Mitgefühl verbindet Innen mit Außen, Kopf mit Herz, Weisheit mit Liebe. Und dieser Raum wächst an mit jedem Menschen, der ihn betritt.
„Aber reicht es denn, einfach nur zu Hause zu sitzen und Mitgefühl zu üben?“ willst Du mir vielleicht sagen.
Meine Antwort lautet ganz klar: „Es ist ein Anfang.“
Du wirst sehen, sobald Du regelmäßig Mitgefühl übst, wirst Du aktiv Deine Umwelt liebevoll mitgestalten wollen. Das ist meiner Beobachtung nach ein Nebeneffekt von Mitgefühl.
Du kannst in Deinem Umfeld sehr viel Gutes bewirken. Und wenn Du den Ruf vernimmst, auch über Dein Umfeld hinaus. Die Kraft dafür kannst du aus dem Mitgefühl beziehen. Es wird Dir helfen langfristig weise und liebevolle Entscheidungen zu treffen. Und Du bist darin verbunden mit all den anderen mitfühlenden Menschen.
Ist Mitgefühl wirklich, was wir momentan brauchen?
Auf der globalen Ebene rufen viele Situationen im Moment noch nach Härte und Kampfgeist. Danach, nicht aufzugeben. Danach sich zu wehren, um nicht komplett untergebuttert zu werden in der Arbeitswelt oder bei der Wohnungssuche. Danach zu kämpfen für die intakten Ökosysteme, die uns noch bleiben und zu kämpfen für würdige Lebensbedingungen für alle Menschen.
Bitte versteh mich nicht falsch. Ich möchte nicht zu einer irakischen Frau gehen, die im Krieg ihren Mann und alle Kinder verloren hat und sagen, sie soll Mitgefühl mit den US Soldaten haben. Wenn Du jedoch eine irakische Mutter fragst, ob sie Mitgefühl hegen könne mit allen Müttern auf der Welt, die ihre Kinder im Krieg verloren haben, dann kann es sein, dass Du berührende, schmerzliche und herzöffnende Antworten erhältst.
Ich möchte alle Menschen ansprechen, deren Herzen dazu bereit sind, Mitgefühl zu üben. Weil in meinen Augen das Gleichgewicht zwischen erhaltenden Kräften und zerstörenden Kräften in unserer Welt schon sehr lange komplett schief steht. Wenn wir etwas auf die Waagschale der lebenserhaltenden Kräfte legen wollen, dann müssen wir mehr Liebe und Mitgefühl in die Welt bringen. Denn was kommt nach der Härte? Was kommt nach den Kämpfen? Und wie wollen wir sonst all die traumatisierten Menschen heilen?
Mitgefühl im Alltag
Erste Schritte
Wie soll ich anfangen? Wie setze ich Mitgefühl in der Praxis um?“ Eine sehr gute Frage und die wichtigste Frage überhaupt. Es ist gut, das Gefühl erst einmal besser kennen zu lernen. Ich empfehle, das tibetische Mantra „Om Mani Peme Hung“ zu hören oder mitzusingen. Warum? Es ist aufgeladen mit der täglichen Übung vieler Menschen seit hunderten von Jahren. Eine Version kannst du hier sehen und hören:
Eine andere Möglichkeit ist, Dich zu erinnern, in welcher Situation Du schon einmal Mitgefühl empfunden hast. Nicht verwechseln mit Mitleid. Mitleid kommt von oben herab. Mitgefühl ist ein Gefühl auf Augenhöhe. Hat Dich die Geschichte eines Menschen oder auch eines Tieres im Herzen berührt und Du spürtest in Dir eine Tiefe, eine Liebe, eine Zuneigung? Das ist es!
Wenn Du eine solche Situation aus Deinem Gedächtnis parat hast, dann geh für eine Minute noch mal rein in dieses Gefühl. Wenn Du es im Herzen hast, dann erweitere am nächsten Tag auf zwei Minuten Verweilen in diesem Gefühl. Dann am dritten Tag auf drei Minuten und immer so weiter. Geh mit der Zeit so weit, wie Du es schaffen kannst. Um es zu verankern reichen auch schon täglich drei Minuten. Zumindest für eine gewisse Zeitspanne. Übe es sooft Du es einrichten kannst.
Fällt Dir noch eine Methode ein, die Du in den Kommentaren mitteilen willst?
Die direkte Anwendung
Ok, nun hast Du geübt, Dich in das Mitgefühl rein fallen zu lassen und hast es verankert in Deinem Repertoire an Empfindungen. Jetzt kannst Du es auf Begebenheiten in Deinem Alltag anwenden. Nimm erst leichtere Situationen. Nicht solche, in denen Du Dich zu sehr aufregst oder wütend geworden bist. Beginne mit einer leichten Übung.
Nehmen wir mal an, der Kassierer im Supermarkt hat Dich unfreundlich angeguckt. Übe Mitgefühl. Wenn es Dir leichter fällt, dann übe erst das Mitgefühl an Dir. Hab Mitgefühl mit Dir, dass der schräge Blick Dich angetickt hat. Versuch es, drei Minuten zu halten. Du wirst merken, wie Du Deine Gefühle leichter zulassen kannst und wie sie sich langsam auflösen. Nun richte Dein Mitgefühl auf den Kassierer. Hab Mitgefühl mit ihm, dass er augenscheinlich so mies drauf war, dass er schneidende Blicke verteilt. Was mag er erlebt haben? Welche Sorgen, Ängste und Schmerzen trägt er? Halte das Mitgefühl auch für die andere Person für etwa drei Minuten. Du wirst merken, dass Du in Frieden kommst mit der Situation.
Ganz wichtig ist es mir Dir zu sagen: Du musst nicht gut finden, was andere machen.
Du musst es nicht verstehen. Du musst ihnen nicht verzeihen. Du musst auch das Mitgefühl nicht erzwingen, wenn Du es nicht spüren kannst, wenn die Übung zu schwer ist und es sich nicht einstellen will. Und wenn es nicht dran ist, weil Du Dich erst mal aus der Schusslinie bringen musst, Dich verteidigen musst. Dann zwing Dich nicht dazu, Mitgefühl zu üben. Das wäre absurd. Wenn Du regelmäßig gemobbt wirst, gequält wirst, misshandelt wirst, dann sind ganz andere Schritte an der Tagesordnung. Nämlich Deine seelische und körperliche Unversehrtheit zu sichern und die Situation dahingehend zu verändern.
Aber was Du immer tun kannst, auch in solch schweren Situationen: Du kannst Mitgefühl mit Dir selber praktizieren!
Du wirst sehen, dass Du dann vielleicht sogar leichter Hilfe annehmen kannst, dass es Dir leichter fällt, um Hilfe zu bitten und dass Du vielleicht schneller die für Dich schädliche Situation verändern oder verlassen kannst.
Mitgefühl mit der anderen Person zu empfinden kann viele Jahre nachdem man schwere Situationen durchgestanden hat, dabei helfen einen weiteren Schritt der Heilung zu gehen. Aber Du musst das nicht erzwingen. Davon rede ich hier nicht. Wenn es kommt, dann kommt es auf natürliche Art und kann sehr viel Erleichterung bringen.
Du musst also nicht gleich den Sprint bei Olympia anpeilen. Fang mit einfachen Übungen an.
Übung für Fortgeschrittene
Wenn Du eine Weile an einfachen Situationen geübt hast, dann kannst Du Dich an schwerere Happen wagen. Sagen wir mal ein deftiger Streit mit Deinem/Deiner PartnerIn, Kind oder FreundIn. Setz nicht sofort nach dem Streit an, wenn die Lava des Vulkanausbruchs noch heiß ist. Warte ein paar Stunden oder einen Tag. Du darfst mit Dir beginnen. Vermutlich bist Du verletzt, noch wütend, störrisch oder traurig. Schenk Dir drei Minuten Mitgefühl. Oder so viel Du grade brauchst, wenn drei Minuten nicht reichen. Danach wird es Dir besser gehen.
Wenn Du soweit bist, kannst Du den Blick auf die andere Person richten. Schenk auch der anderen Person drei Minuten Aufmerksamkeit in Form von Mitgefühl oder soviel Du brauchst, um ins Reine zu kommen. Auch dem/der Anderen geht es mies. Auch er/sie ist verletzt, traurig und wütend. Auch er/sie hat seine Geschichte und Narben und Wunden.
Was passiert bei vermehrter Übung von Mitgefühl?
Meine Erfahrungen mit dieser Übung von Mitgefühl sind bisher ausnahmslos positiv. In mir ist mehr Leichtigkeit und auch der andere Mensch kommt schneller wieder in Harmonie. Es kann jedoch manchmal vorkommen, dass die andere Person weiter trotzt oder dicht macht. Oder dass Du selber länger brauchst, um wieder ruhig zu werden.
Lass Dich nicht davon abhalten, weiter zu praktizieren, auch wenn der Erfolg mit langsamen Schritten daher kommt.
Mitgefühl ist bedingungslos. Es öffnet einen Raum, um gestockte Energien zu bewegen, aber wenn Dein Gegenüber noch mehr Zeit braucht, um diesen Raum überhaupt zu betreten, dann mach die Übung am darauf folgenden Tag noch mal.
Bei all Deinen Bemühungen gilt es folgendes nicht zu vergessen: Du bist nicht dafür zuständig, wenn die andere Person blockiert oder nur so tut, als ob sie wieder gut mit Dir ist. Das liegt außerhalb Deines Wirkungsbereichs.
Mitgefühl ist bedingungslos!
Je mehr Du übst, desto leichter wird es mit der Zeit. Desto schneller hast Du den Raum des Mitgefühls geöffnet und kannst in diese schöne Energie eintauchen.
Und auch wenn Du nicht dazu kommst, Dich regelmäßig in Mitgefühl zu üben, wenn Du denkst, es ist grade bei Dir nicht dran, möchte ich hier einfach nur meine Erfahrung, Meinung und Gedanken als Angebot für Dich teilen.
Für mich ist Mitgefühl die schönste Medizin, die wir unserem Umfeld und der ganzen Welt schenken können.
Und glaub bitte nicht, dass ich immer und überall Mitgefühl praktizieren kann. Mir fällt es genauso schwer oder leicht wie Dir. Manchmal dauert es Jahre bei mir, bis ich auf eine Situation mit Mitgefühl blicken kann. Ich bin diesbezüglich langsam im Lernen und oft störrisch. Aber die positive Wirkung überzeugt mich mehr und mehr.
Zum Abschluss möchte ich wiederholen: Wenn Du es noch nicht schaffst, für eine andere Person Mitgefühl zu empfinden, dann beginne bei Dir. Mitgefühl bleibt nie ohne Wirkung.
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2 Gedanken zu „Der Weg des Mitgefühls“
Wie wahr! Mitgefühl vereint, während Ablehnung trennt. Und es stimmt, am besten fängt man bei sich selbst an. Auf der Basis kann man anderen viel mehr geben. Ich glaube, wir dürfen uns alle viel mehr Zeit nehmen, um Mitgefühl zu üben, denn dies ist wirklich die beste Medizin!
Vielen Dank Carla für diesen unterstützenden Kommentar! 🙂